Straßennamen werden zu Ehren von Menschen vergeben. Wenn jene sich nicht nach Flurbezeichnungen oder beispielsweise Fichten richten. Was aber ist, wenn die vor Jahrzehnten geehrte Person heutzutage nicht mehr als würdig angesehen wird, dass nach ihr ein Weg, eine Allee oder eine Straße benannt wird? Umbenennen, und zwar sofort? Oder mit Infotafeln erläutern, warum die Frau oder der Mann einmal zur Ehre eines Straßennamen gekommen ist? Auf diese Fragen gibt es keine schnellen und allgemeingültigen Antworten, wie ich bereits hier und hier geschrieben habe. Aber es gibt die gesellschaftliche Verpflichtung, darüber einmal in Ruhe und konstruktiv-kritisch zu diskutieren. Ich bin gespannt, ob das in den nächsten Monaten gelingt. Ob es nur schwarz-weiß („Haben wir nichts Wichtigeres zu tun?“) oder Bilderstürmerei gibt, oder ob eine Debatte mit mehreren Grautönen entstehen kann – nicht nur, aber auch in der Kommunalpolitik.
Bei der kritischen Durchsicht aller 130 nach Personen benannten Straßennamen im Gebiet der Stadt Einbeck und seiner Ortschaften nach Belastungen vor allem aus der Zeit des Nationalsozialismus sind vier Namen als besonders kritisch eingestuft worden. Museumsleiter Marco Heckhoff hat nach seinen Recherchen in den vergangenen Monaten und Bewertungen nach bestimmten zuvor aufgestellten Kriterien der Politik jetzt einen zehnseitigen Ergebnisbericht vorgelegt, der nach dem einstimmigen Willen des Kulturausschusses nun zunächst in den Fraktionen sowie mit den Anliegern der betroffenen Straßen diskutiert werden soll. Heckhoff betonte, dass seine Untersuchung keine wissenschaftliche im engeren Sinne sei, eine solche benötige wesentlich mehr Zeit und sei neben dem Tagesgeschäft nicht zu leisten. Aber die Prüfung genüge sehr wohl wissenschaftlichen Standards und beziehe sich auf neueste Forschungsergebnisse, sagte Heckhoff.
130 von insgesamt 796 Straßennamen sind nach Personen benannt, 98 davon in Einbeck, 32 in den Ortschaften. 35 der 46 Ortschaften haben keine nach Personen benannten Straßen. Weniger als 30 Prozent der meist nach dem Zweiten Weltkrieg verwendeten Namen von Frauen und Männern haben einen lokalen Bezug. Während es keine Personen aus der Zeit des Kolonialismus oder mit kritischem Bezug zur SED der DDR gibt, sind mehrere Straßen nach Menschen mit Verbindungen zum Nationalsozialismus benannt worden.
Museumsleiter Marco Heckhoff hat drei Kriterien bei seiner Überprüfung zugrunde gelegt, wie er im Kulturausschuss erläuterte. Neben einer einflussreichen Position in NS-Organisationen sowie politischem Aktivismus ist das ein öffentliches Bekenntnis zum NS-Regime und/oder die Verbreitung von NS-Ideologie, besonders Antisemitismus. Schließlich zählt ein persönliches Profitieren (nicht nur, aber auch materiell) durch eine Annäherung an das NS-Regime dazu, durch das andere Menschen im Sinne der nationalsozialistischer Herrschaftsverhältnisse geschädigt wurden. Auch entlastende Kriterien seien bei der Bewertung zu berücksichtigen, sagte der Museumsleiter und Historiker.
115 von 130 Personen-Straßennamen sind laut Heckhoff unkritisch. Elf Straßennamen ließen eine finale Bewertung beispielsweise wegen nicht ausreichender Quellen- oder Forschungslage nicht zu. Beispielsweise zum Musikpädagogen Fritz Jöde. Oder auch bei Hindenburg, Fritz Mackensen, Karl Burgsmüller oder Alfred Nobel.

„Vier Straßennamen erfüllen die aufgestellten Kriterien in einem Maße, dass eine Umbenennung diskutiert werden sollte“, sagte Heckhoff. Dieses sind
Dr.-Heinrichs-Straße in Andershausen: Benannt in den 1930er Jahren nach dem Nazi-Landrat Dr. Kurt Heinrichs, der als typischer Karrierist im Beamtensystem des Dritten Reiches bis ins Innenministerium aufgestiegen ist und vom NS-System (beruflich) maßgeblich profitierte, und der noch 1970 sein Nicht-Handeln in der Reichspogromnacht 1938 rechtfertigte.
Agnes-Miegel-Straße in Einbeck: Benannt 1961 in der Nordstadt in einer Umgebung von Uhland, Klopstock, Hölderlin oder Möricke. Die aus Ostpreußen stammende Schriftstellerin Agnes Miegel hat sich bereits 1933 öffentlich zum Nationalsozialismus bekannt („Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler“) und mit ihren antisemitischen Schriften eine zentrale Bedeutung für die Blut-und-Boden-Ideologie gehabt, von denen sie sich nach 1945 nie distanzierte. Zahlreiche Straßen und Schulen wurden in den vergangenen Jahren bereits umbenannt.
Carl-Diem-Weg in Einbeck: Benannt 1961 in der Nähe der Sportanlagen der Kernstadt. Carl Diem war Sportfunktionär vor und während der Olympischen Spiele 1936 in Berlin, wusste seit 1943 nachweislich vom Holocaust. Seit einer Biografie des Historikers Frank Becker sei der Antisemitismus Carl Diems und dessen Rolle im NS-Staat anhand zahlreicher Quellen gut belegt, sagte Heckhoff. Zahlreiche Kommunen hätten nach Diem benannte Straßen bereits umgewidmet.
Sohnreystraße in Kreiensen: Diese Straße erfüllt nur zwei der drei Kriterien. Heinrich Sohnrey habe zwar fremdenfeindliches und rassistisches Gedankengut verbreitet, habe eine bedeutende Rolle im Kontext der NS-Propaganda gespielt, Sohnrey sei aber kein NSDAP-Mitglied gewesen und habe keine einflussreiche Rolle im NS-System eingenommen. „Die Bewertung bleibt ambivalent“, sagte Heckhoff.
Die kritische Prüfung der Straßennamen war als zusätzlicher Auftrag entstanden, nachdem Ratsherr Alexander Kloss (parteilos) im Sommer 2020 eine Liste Einbecker Persönlichkeiten gefordert hatte, nach denen künftig neue Straßen benannt werden sollten. Auch diese Liste mit aktuell 39 Namen hat der Kulturausschuss zur weiteren Beratung verwiesen und will auf sie zurückgreifen. Heckhoff betonte, die Liste sei dynamisch, könne noch wachsen. Genannt werden in dem Papier beispielsweise ehemalige Bürgermeister und andere Politiker wie Lothar Urbanczyk (1903-1986; Landrat, Landtagsabgeordneter), Gerda Eisfeld (1909-2001; AWO) oder Wilhelm Dörge (1922-2017; Bürgermeister, Landtagsabgeordneter). Oder Unternehmer wie Otto Ammermann (1897-1979), Hans Feierabend (1921-1994), Adolf Reichenbach (1924-2003) oder Joachim Stadler (1926-2020). Oder Künstler und Sportler wie Kurt Hensel (1882-1948), Emil Reinecke (1933-2011) oder Richard Seiffert-Wattenberg (1874-1945). Oder Personen wie Werner Lüttge und Ernest Kaufman (wie Heinrich Keim beim Kriegsende 1945 in entscheidender Rolle aktiv), der frühere Geschichtsvereinsvorsitzende Horst Hülse (1934-1994) oder der prägende Fotograf Rudolf Lindemann (1904-2003). Aber auch Familien, die seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten in Einbeck Bedeutung haben, wie Ernst, Boden, Büchting, von Einem oder Wittram, stehen auf der Liste. Sollte sich der Stadtrat am Ende der Diskussion für eine Umbennenung von Straßen entscheiden, könnten Namen von dieser Liste verwendet werden. Zu berücksichtigen ist, dass Menschen fünf Jahre verstorben sein müssen, bevor einen Benennung möglich ist. Die Nachfahren-Familien sollten vorab einbezogen werden. Und auch in neuen Baugebieten, soweit vorhanden, könnten diese Namen die Ehren erhalten, ein Straßenname zu werden.