
Als August Kahle in die SPD eingetreten ist, war die Bundesrepublik Deutschland gerade einmal ein gutes halbes Jahr alt, der Zweite Weltkrieg erst seit fünf Jahren beendet. Deutschland musste wieder aufgebaut, die Gesellschaft neu organisiert werden. Der Bundeskanzler hieß im Januar 1950 Konrad Adenauer, und der Vorsitzende der SPD war Kurt Schumacher. Dies alles klinge wie ein Märchen aus weit entfernter Zeit, sagte der Vorsitzende der SPD-Abteilung Dassensen/Ilmetal, Christian Grave. Umso schöner sei es, dass es wahr sei und eben kein Märchen: August Kahle aus Dassensen ist seit 70 Jahren Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Dafür wurde der 91-Jährige im Dassenser Pfarrsaal am Sonnabend Nachmittag geehrt. „Ich habe mich nie in den Vordergrund gestellt“, bedankte sich Kahle bescheiden. An diesem Tag musste er da durch, im Mittelpunkt zu stehen.

70 Jahre, das sei fast die Hälfte der gerade gefeierten 150 Jahre SPD in Einbeck, eine unglaubliche Zahl, sagte der Vorsitzende des SPD-Ortsvereins, Marcus Seidel. Und vor allem, wo der Jubilar fit und ein hochsympathischer Mensch sei und aktiv am Leben teilnehme. Alle Genossen zwischen Bodenfelde und Kalefeld, zwischen Gillersheim und Nörten-Hardenberg gratulierten zu diesem seltenen Jubiläum, sagte die SPD-Unterbezirksvorsitzende Frauke Heiligenstadt. August Kahle, der mit 21 Jahren in die SPD eingetreten ist, gelernter Maurer und Jahrzehnte bei der Straßenmeisterei beschäftigt, war 1956 erstmals in den Gemeinderat der damals noch selbstständigen Gemeinde Dassensen gewählt worden, von 1974 war Kahle 22 Jahre lang Ortsbürgermeister, saß in dieser Zeit auch im Einbecker Stadtrat. Was ihn besonders stolz mache? Dass Dassensen seit seiner Zeit bis heute weiter ununterbrochen einen Ortsbürgermeister habe, der der SPD angehöre.

Die Jubilarehrung mit Urkunde und Anstecknadel nahm Wolfgang Jüttner vor, der ehemalige niedersächsische Umweltminister und Landtagsfraktionsvorsitzende aus Hannover. Kurzfristig musste er für den stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, Matthias Miersch, einspringen, der als Redner in Berlin bei der „Wir haben es satt“-Demo unabkömmlich war. Jüttner schlug in seiner Rede den ganz großen Bogen von den Anfängen der Sozialdemokratie bis heute. Er selbst sei vor genau 50 Jahren, kurz nach Willy Brandts Regierungserklärung „Mehr Demokratie wagen“, in die SPD eingetreten. Sozialdemokratie bedeute nicht, die alten Lieder zu singen und von früher zu erzählen. Die SPD dürfe auf die Fragen von heute nicht alte Antworten geben. Bei der aktuellen Schwäche der Sozialdemokraten müsse Ziel sein, sich in den kommunalen Gremien zu revitalisieren, neu aufzubauen. Wenn dort vor Ort, authentische Persönlichkeiten um die beste Lösung ringen würden, hinhören auch am Biertisch, Glaubwürdigkeit verbreiten, Vertrauen schaffen und ihre Politik auch noch gut erklären könnten, könne es wieder bergauf gehen – wenn auch nicht sehr schnell, befürchtete Jüttner. „Mehr Ehrlichkeit ist schon die halbe Miete“, sagte der SPD-Politiker und zitierte Gründungsvater Ferdinand Lasalle: Sagen, was ist.

Vier Themen seien heute für die SPD wichtig, um wieder mit ihren bewährten Werten an Boden zu gewinnen, sagte Jüttner. Das seien Frage des Friedens und wie man diesen bewahren könne ebenso wie die gerechte Verteilung von Arbeit, Einkünften und Vermögen sowie die Gleichheit von Startchancen. Vor allem aber sei die Klimapolitik eine Herausforderung, die sich momentan oft noch nur in symbolischer Politik erschöpfe, der Frage nach der richtigen Zahnpastasorte. Wirkungsvolle Klimapolitik werde aber ein großer Eingriff in den industriellen Prozess bedeuten, inklusive sozialer Kontroversen. Und schließlich, und das habe er vor fünf Jahren noch nicht gedacht, sagte Jüttner, stehe die Verteidigung der Demokratie ganz oben auf der Tagesordnung. Die sei durch Wahlergebnisse rechter Parteien und autoritäre Regime schwer unter Druck. Da sei es Aufgabe der SPD, Meinungspluralismus zu verteidigen. Zu Zeiten August Bebels habe man für freie Meinungsäußerung im Gefängnis gesessen. Wolfgang Jüttner: „Sozialdemokraten haben gelitten, dass sie ihre Meinung öffentlich vertreten haben.“ Dazu dürfe es nie wieder kommen.
