Analyse: Interviewsendung EIN-Wahl mit den drei Bürgermeisterkandidaten

Einbeck hat am 1. November die Wahl. Deshalb gab es EIN-Wahl, eine am Sonnabend Abend zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr live im Internet übertragene Interviewsendung, die sich vorrangig an junge Menschen wenden wollte, bei der aber vermutlich auch einige ältere Zuschauer dabei gewesen sein dürften. Denn in der Multifunktionhalle am Haus der Jugend trafen das einzige Mal vor der Bürgermeisterwahl 2020 die drei Kandidaten direkt und persönlich aufeinander. Wegen Corona-Auflagen ohne Publikum und auf Abstand und mit nur wenigen Menschen hinter der Kamera. Weshalb auch ich nicht direkt während der Live-Sendung dabei sein konnte, sondern ich meine hier niedergeschriebenen Beobachtungen auf Grundlage des Youtube-Live-Streams und der Aufzeichung sowie weiterer Recherchen gemacht habe.

Sie kandidieren (v.l.): Claudius Weisensee, Sabine Michalek und Dirk Heitmüller. Foto: Spieker Fotografie

Gut zwei Stunden sprachen Amtsinhaberin Dr. Sabine Michalek und ihre zwei Herausforderer Dirk Heitmüller und Dr. Claudius Weisensee mit Moderator Micha Meißner in sieben Themenschwerpunkten, die das EIN-Wahl-Team für das ehrenamtliche Projekt in viel Vorarbeit herausgefiltert hat, aus zahlreichen vorab eingegangenen Fragen und den Wahlprogrammen der drei Kandidaten. Das war eine Menge Inhalt. Die Themenblöcke wurden jeweils mit einem kleinen von Jendrik Bühring gesprochenen Videoclip eingeleitet, meistens gab’s zusätzlich eine externe Stimme: „Friday for future“-Vertreter Hinrich Borchardt, Sch(l)aufenster-Vorsitzender Hans-Jürgen Kettler und Diakonie-Sozialarbeiter Marco Spindler sowie ein Mann, der anonym bleiben wollte. Auch ich durfte beim Thema „Attraktivität der Stadt“ zwei Sätze sagen. Vor der Diskussion gab’s von den Kandidaten selbst gedrehte, einminütige Vorstellungsfilme, die bereits einige Tage vor der Sendung über die sozialen Netzwerke von den Kandidierenden selbst gepostet wurden (und dort auch weiterhin zu sehen sind).

Die Themen

Falls die Reihenfolge eine Priorität darstellen sollte, dann wäre Klima- und Umweltschutz das wichtigste Thema, denn das setzten die EIN-Wahl-Macher an den Beginn. Es folgten ein paar „Klassiker“, bei denen die Kandidaten ihre Positionen austauschen konnten. Wer die Kandidaten schon öfter gehört hat und verfolgt, kannte da einige Textbausteine schon. Manchmal spürte man leider, dass zu wenig Einbeck und zu viel große Politik in einigen Köpfen der Organisatoren und Fragesteller zur Kommunalpolitik zu gehören scheint. Auch ein häufiges Springen zum nächsten Thema, ohne dass jeder Kandidat etwas zum Thema sagen konnte, war angesichts der Zeitvorgaben zwar nachvollziehbar, aber ärgerlich, weil damit die Kandidaten nicht überall vergleichbar wurden.  Besonders spannend, weil bislang bei diesen Themen zwischen den Kandidaten noch keine Debatte stattgefunden hatte (oder allenfalls eine Ferndebatte via Pressemitteilungen): die Themen Rechtsextremismus in Einbeck (ab 1:38 Stunde) sowie Migration und Integration (ab 1:54 Stunde). Ich hoffe nicht, dass es die Straßenmusik auf Hallenplan und Marktplatz ausschließlich deshalb gab und gibt, damit nicht so leicht Nazi- und andere Demonstrationen auf diesen Plätzen angemeldet werden können. So klang das leider für mich. Ob mit Bußgeldbescheiden für falsch getrennten Müll Neonazis aus der Stadt verdrängt werden können, wie das Claudius Weisensee andeutete, möchte ich bezweifeln. Rechtsextremismus ist dann woanders, aber nicht in der Gesellschaft insgesamt zurück gedrängt. Bei der politischen Integration von Menschen mit Migrationshintergrund kam ausgerechnet der SPD-Kandidat ins Schwimmen, beim Versprecher (vermutlich aus Lampenfieber) über das farbige Ortsratsmitglied, das „obwohl seiner dunklen Hautfarbe“ viele Stimmen bekommen habe, hätte der Moderator klärend nachhaken müssen. Wahrscheinlich ärgern sich die Beteiligten aber heute selbst am Meisten darüber. Beim Schlussstatement schien überraschenderweise Sabine Michalek am Unsichersten, sie las teilweise vom Blatt ab und nutzte ihre 60 Sekunden nicht komplett aus. Die beiden anderen bekamen ihren Wahlaufruf deutlich direkter in die Kamera. Wobei Michalek und Heitmüller wieder in die Sie-Anrede rutschten, Weisensee blieb beim Du.

Die Kandidaten  

Vielleicht haben einige Zuschauer das live gar nicht gemerkt: Außer den eigenen Vorstellungsfilmen gab es keine Vorstellungen der Kandidierenden durch den Moderator. Es ging sofort in die Themen. Und nur ein Kandidat, Dirk Heitmüller, hat selbst gesagt, dass er der Bewerber der SPD ist. Bei den beiden anderen spielten die Parteien keine Rolle, sie wurden von ihnen selbst nicht erwähnt. Und auch das EIN-Wahl-Team fand es offenbar nicht wichtig, diese Hintergründe der sich zur Wahl stellenden Menschen aufzuklären. Das kann man als Fehler sehen, oder aber als Beweis dafür, dass Parteien bei Persönlichkeitswahlen wie Bürgermeisterdirektwahlen keine wesentliche Bedeutung haben. Es ist in jedem Fall schade, dass nur wenig deutlich wurde, dass ein Bürgermeister ja nicht als Alleinherrscher im Rathaus bestimmen kann, sondern dass er nur eine Stimme im Stadtrat ist, welcher das eigentliche Politik-Beschlussgremium ist. Dirk Heitmüller hat das Claudius Weisensee an einer Stelle schön deutlich gemacht: Weisensee werde ja von einer Vielzahl von Parteien unterstützt, das seien momentan aber nur 8 von 45 im Stadtrat (korrekt wäre übrigens 10 von 44). Seine Mehrheit müsse er sich da noch besorgen. Bemerkenswert war außerdem, dass es mehrere Wortgefechte zwischen den Kandidaten gab. Sabine Michalek nahm Claudius Weisensee gleich mehrmals ins Visier: Beim Thema Windenergie habe dieser ja „vielleicht in Karlsruhe nicht so richtig mitbekommen“, dass Einbeck Vorranggebiete ausgewiesen habe, worauf dieser konterte, die Stadt habe sich erst auf Druck der Bürgerinitiative bewegt. Und beim Thema Straßenausbaubeiträge, deren Abschaffung von den drei Kandidaten allein Weisensee fordert, nahm Michalek ihn besonders heftig ins Gebet: „Du hast mir nie gesagt, wie wir die 800.000 Euro gegenfinanzieren sollen“. Neue Schulden zulasten der nächsten Generation lehnte Michalek ab. Und auch Dirk Heitmüller schoss verbal gegen Weisensee, fragte ihn, ob er trotzdem zurück nach Einbeck kommen würde, auch wenn er nicht Bürgermeister würde. Heitmüller hatte den Eindruck, dass Weisensee „den Weihnachtsmann spielen möchte“, der Wahlgeschenke mache und der ja erst seit acht Wochen Politik in Einbeck mache, da könne er nicht alle Themen draufhaben. Zwischen Michalek und Heitmüller hingegen gab’s solchen Streit während der gesamten Debatte nicht. Bemerkenswert.

EIN-Wahl (v.l.): Claudius Weisensee, Sabine Michalek, Moderator Micha Meißner und Dirk Heitmüller. Foto: Spieker Fotografie

Der Moderator

Micha Meißner, in der Musikszene auch als Sänger „Mister ME“ bekannt, hat seine Sache sehr gut gemacht. „Ich habe noch nie etwas moderiert“, sagte der gebürtige Einbecker und Wahl-Berliner zu Beginn, aber dem Musiker merkte man seine Bühnen- und Kameraerfahrung sofort an. Nach wenigen Minuten fühlte sich der Zuschauer in eine Talkshow versetzt, wie er sie aus dem Fernsehen kennt – mit Moderator und gelabelten Moderationskarten. Wegen der anvisierten Zielgruppe nachvollziehbar war das konsequente Duzen der Akteure. Gewöhnungsbedürftig finde ich immer noch das gesprochene Gendern. Bei Micha Meißner klang das aber geübt und wie selbstverständlich. Kleines Bonmot aus der Einladungsmail zu dem Event: „ein Interview der Bürgermeister*innenkandidierenden“.

Das Format

EIN-Wahl verstand sich als Show (jedenfalls laut Ankündigung in Social Media), als Interview der drei Kandidierenden. Es war eher eine professionell gemachte Talkshow. Mit Einspielern und Kamerafahrten durchs große Studio. Die Macher haben der Versuchung gut widerstanden, zu viele technische Spielereien einzubauen. Wie weit die Kandidaten (corona-bedingt) voneinander entfernt saßen, war gut zu sehen. Vielleicht sollten es beim nächsten Mal etwas bequemere Sitzmöglichkeiten sein. Die genutzten Hocker sehen zwar stylisch aus, scheinen aber auf Dauer nicht für jeden angenehm gewesen zu sein. Die Youtube-Sendung (hier weiterhin abrufbar, die Sendung beginnt nach Minute 15) fand in Kooperation von Stadtjugendpflege Einbeck, Multifunktionshalle und evangelisch-lutherischer Jugendkirche „marie“ statt, organisiert von einer Gruppe aus ehrenamtlich und beruflich Tätigen der Jugendarbeit in Einbeck. Wie viele das unter dem Strich waren, sieht man gut im Abspann. Dass einige der Macher damit ihre aktuelle Dienstherrin (die Bürgermeisterin) oder ihren künftigen obersten Chef (Bürgermeister) vor Kamera und Mikro hatten, hat man nicht gemerkt. EIN-Wahl war eine unabhängige Veranstaltung zur Bürgermeisterwahl.

Der Ort

Die noch nicht offiziell in Betrieb genommene neue Multifunktionshalle am Haus der Jugend bot genügend Raum, die Abstandsregeln einhalten zu können. Wenn dann die letzten Baufehler beseitigt sind, kann die Halle auch offiziell abgenommen und eingeweiht werden. Sie wird künftig ein guter Ort sein, auch solche Veranstaltungen durchzuführen, das hat EIN-Wahl ideal gezeigt.

Social Media

Die Macher haben ihr Event intensiv über die sozialen Netzwerke Facebook, Instagram und Twitter beworben. Kein Wunder, waren doch vor allem junge Menschen das Zielpublikum von EIN-Wahl, und das ist nun einmal eher dort als in der Zeitung unterwegs. Auch die Kandidaten haben auf diesen Kanälen die Veranstaltung angekündigt, sich wie Dirk Heitmüller und Claudius Weisensee vor der Live-Sendung in der Maske und im Studio präsentiert, aber nur Sabine Michalek hat während der Sendung bei Instagram Inhaltliches gepostet (bzw. posten lassen). Hier hatte ich mehr von den jeweiligen Teams der Kandidaten erwartet. Denn es wäre die Möglichkeit gewesen, Aussagen „ihrer“ Kandidaten nochmal zu verstärken und auch kleine Fehltritte zu korrigieren. Und einzig die FDP versuchte direkt im Anschluss an die Sendung, dieser einen Spin mitzugeben, eine Interpretation. Der Post kam aber auch von einem Berufspolitiker, der sowas aus dem Landtagswahlkampf natürlich kennt.

Fehler passieren

Gab’s keine Pannen? Doch, natürlich. Das wäre auch unheimlich gewesen, wäre bei einer solchen Premiere alles glatt gelaufen. Zwei Mal versagte die Kamera, einmal als die Bürgermeisterin etwas sagte und ein paar Sekunden nicht im Bild gezeigt werden konnte. Und zum Schluss einmal bei Claudius Weisensee, da war es besonders ärgerlich, denn beim Schlussstatement schaute er zunächst in eine falsche Kamera. Doch das wurde schnell korrigiert. In einem der Videoclips war von „so genannter Corona-Pandemie“ die Rede – warum, wird das Geheimnis der Macher bleiben.

Rund 350 User waren bei der Sendung in Spitzenzeiten live dabei, inzwischen ist die Aufzeichnung aber mehr als 2000 Mal als Aufzeichnung abgerufen worden.

Die Fotos zu diesem Blogbeitrag stammen von Florian Spieker (www.spieker-fotografie.de). Vielen Dank!

Anmerkung: Der Betreiber dieses Blogs hat am 13. Oktober 2020 via Zoom-Meeting eine Diskussion mit den drei Kandidaten moderiert. Diese durfte jedoch leider nicht aufgezeichnet werden.

Das Studio von EIN-Wahl in der Multifunktionshalle. Foto: Spieker Fotografie

(Aktualisiert 28.10.2020, 18:30 Uhr)

In einer ersten Version dieses Textes wurde behauptet, die Einspieler wurden Tom Astein gesprochen. Das ist falsch. Richtig ist, dass sie von Jendrik Bühring gesprochen worden sind. Entschuldigung.

Nachtrag 28.10.2020: Heute hat sich das EIN-Wahl-Team auf meine bereits direkt nach der Live-Sendung gestellten Antworten gemeldet und außerdem noch einige Anmerkungen zu meinem Text gemacht, die ich nachfolgend gerne veröffentliche. Das EIN-Wahl-Team ist mit dem Ablauf und Inhalt der Sendung sehr zufrieden. Es seien durchgehend 350 zugeschaltete Geräte gewesen, der Peak lag bei 354. „Das Fazit ist durchweg positiv und auch die Rückmeldungen sind es“, heißt es in der Antwort. „Eine Weiterführung des Formates können wir uns prinzipiell vorstellen, auch wenn ein hoher zeitlicher Aufwand von Nöten war und auch für Folgeformate nötig sein wird.“ Die Blicke in die falsche Kamera von FDP-Kandidat Weisensee seien ein Resultat eines Kommunikationsproblems gewesen, kein Fehler der Kameraoperatoren. Zum Thema „so genannte Corona-Pandemie” heißt es in der Antwort: „Wir haben in der Redaktion darüber gesprochen, dass der Erreger „SARS-CoV-2“ heißt und somit nur ein Virus aus der Familie der Coronaviren ist. Des Weiteren bezeichnet Covid-19 die durch das Virus verursachte Krankheit und wäre somit – aus unserer Sicht – der richtige Terminus. Um auf die umgangssprachlichen Verwendung des Wortes „Corona-Pandemie“ hinzuweisen, fügten wir hier das Wort „sogenannte“ ein. In der Wirkung nach außen – da stimmen wir Ihnen zu – vielleicht nicht geschickt gewählt. Damit es nicht zu weiteren Verwirrungen kommt: Die Covid-19 Pandemie ist real.“ Zur Aussage von Dirk Heitmüller (SPD) heißt es: „Wir sind uns bewusst, dass zu einer journalistischen Tätigkeit auch die Demaskierung von Alltagsrassismus gehört und ärgern uns darüber, hier nicht direkt Stellung bezogen zu haben. Danke für den Hinweis. Wir möchten direkt Besserung geloben und darauf hinweisen dass auch „farbig“ in diesem Fall ein rassistischer Terminus ist.“ Zum Thema Gendern teilt das EIN-Wahl-Team mit: „Das gesprochene Gendern mag gewöhnungsbedürftig wirken, aber Sprache ist beweglich und wir möchten alle Geschlechter mit meinen und nicht ausschließen. Wir stehen hinter einer sprachlichen Vielfalt, die jedes Geschlecht einbezieht. Der geschlechterbewusste Sprachgebrauch ist in unserer heutigen Gesellschaft wichtig, um Weltbilder zu ändern und Gleichberechtigung zu ermöglichen.“